Liebe Schwestern und Brüder,
intensive Jahre hatten die Frauen und Männer erlebt, die Jesus gefolgt waren. Die meiste Zeit – so berichten es die Evangelien – waren sie zu Fuß unterwegs. Wenn sie Abend für Abend ihre Schuhe oder Sandalen auszogen und sich den Staub von den Füßen wuschen, dann erzählte ihnen wohl so manche Blase und bisweilen auch Schürfwunde von der zurückgelegten Wegstrecke.
Jahre später waren viele der Weggefährten Jesu wieder zu Fuß unterwegs – jetzt allerdings auf anderen Routen, außerhalb von Israel, so in Kleinasien oder Griechenland, bis nach Rom. Dabei gaben sie Zeugnis von ihrem Weg mit Jesus. Altvertraute Druckstellen an den inzwischen älter gewordenen Füßen mögen sich wieder eingestellt haben. Doch viel prägender für ihre jetzigen Wege waren Erfahrungen, die sie zuvor auf dem Weg mit Jesus gemacht hatten.
Blasen und Druckstellen an den Füßen verleiten zu einem langsamen, auf Schonung bedachten Gang. Die seelischen Eindrücke führten bei den Jüngern Jesu allerdings zu einer ganz anderen Dynamik. Sie waren wie ein Energieschub für die weiten Wegstrecken. Statt Schonung sahen sich die Frauen und Männer ermutigt zum furchtlosen Zeugnis. Viele Blessuren holten sie sich dafür ein: Demütigungen, Schläge, Gefangenschaft – bis hin zum gewaltsamen Tod.
Das Zeugnis der Vielen verdichtete sich wenige Jahrzehnte nach Tod und Auferstehung Jesu in den Schriften, die wir heute das Neue Testament nennen. Weiterhin wuchs aus dem vielfältigen Zeugnis ein gemeinsames Bekenntnis. Dieses Bekenntnis fand vor genau 1700 Jahren, im Mai des Jahres 325, beim Konzil von Nizäa in dem Text seine gültige Form, den wir das Credo nennen. Wenn wir dieses Glaubensbekenntnis heute sprechen, dann verbindet es uns mit all den vielen Generationen von Getauften, die seit jenem Konzil in demselben Text ihren Glauben bekannt haben. Zugleich verbindet uns dieses Glaubensbekenntnis heute mit den Christen aller Konfessionen. Das Jubiläum von Nizäa ist ein Anlass zur Dankbarkeit für dieses große Zeichen der Einheit, das schwerer wiegt als alles, was seither zu Trennungen und Verwerfungen zwischen den christlichen Konfessionen geführt hat.
Was damals für die Wege zwischen Kleinasien und Rom galt, das ist auch für uns heute von Bedeutung: Die Kraft des Zeugnisses lebt vom Wissen um das gemeinsame Bekenntnis und zugleich von der persönlichen Erfahrung. Denn die Menschen, die in Antiochia, in Ephesus oder Korinth das Zeugnis der Jüngerinnen und Jünger Jesu gehört haben, werden bisweilen kritisch nachgefragt haben: Wo und wann hat der Weg mit Jesus dich tief im Herzen berührt? Wo hat sein Weg deinen Weg bleibend verändert? Ja, diese Fragen werden sich die ersten Zeuginnen und Zeugen selbst gestellt haben, wenn sie schließlich in Kerkern auf Verhöre, Folter oder Hinrichtung warteten: Welche Erfahrung mit Jesus hat mich so geprägt, dass ich jetzt die Kraft habe, diesen, meinen Weg zu gehen?
Als Christ unterwegs auf rutschigen Wegen: Da ist einerseits das Bemühen, tiefer zu verstehen, was mit dem Glaubensbekenntnis gemeint ist. Da ist andererseits die Erfahrung, dass ich selbst existenziell berührt bin vom Weg Jesu. Das Glaubensbekenntnis der Kirche und meine persönliche Erfahrung sind wie ein einziges Paar Schuhe, das wir gerade heute als Glaubende brauchen. Es sind Schuhe mit Profil, die Halt geben, damit wir in Zeiten, wo vieles ins Rutschen geraten ist, gerade dorthin gehen können, wo unser Zeugnis und unser Dienst am Menschen heute gebraucht werden.
„Leg deine Schuhe ab, denn der Ort, wo du stehst, ist heiliger Boden.“ (Ex 3,5) Als gläubige Kinder Israels war den Frauen und Männern in der Nachfolge Jesu dieses Wort aus dem Buch Exodus von Jugend an vertraut. Vielleicht kam es ihnen bisweilen genau dann in den Sinn, wenn sie am Abend eines langen Tages ihre Schuhe ablegten und ihre Druckstellen betrachteten. „Leg deine Schuhe ab …“ – Mose, dem dieses Wort galt, war von Gott zutiefst berührt worden. Für ihn war dieser Moment mit einer mehrfachen Grenzerfahrung verbunden. Als junger Mann musste er aus Ägypten fliehen, lebte als Geduldeter in der Fremde und musste – wie es im Buch Exodus heißt – als Hirte mit seinem Vieh nach Nahrung suchen, bis über den Rand der Steppe hinaus. Hier erfährt er auf überraschende Weise einen mitfühlenden Gott, einen, der ein Ohr für die Klage der versklavten Israeliten hat. Schließlich erfährt Mose Gott als den, der zu ihm sagt: „Und jetzt geh!“ (Ex 3,10)
„Leg deine Schuhe ab …“ – Ich stelle mir vor, dass die Jüngerinnen und Jünger Jesu bisweilen den Gedanken hatten: Meine tiefe Erfahrung mit Jesus hat ein ganz ähnliches Profil, wie das, was uns von Mose geschildert wird. Auch meine tiefste Begegnung mit Jesus war mit der Erfahrung einer persönlichen Grenze verbunden, etwa mit dem Zweifel, wie bei Thomas, oder mit dem Verlust eines geliebten Menschen, wie bei Maria und Martha. Auch ich bin Gott begegnet, der ein Ohr hat für das Schreien der Blinden, der Lahmen und der Aussätzigen, wie bei Bartimäus. Auch bei meiner Begegnung mit Jesus gab es dieses Wort: „Und jetzt geh …“ Daher bin ich jetzt unterwegs als seine Zeugin, als sein Zeuge – in Kleinasien, in Griechenland, in Rom oder sonst wo.
Liebe Schwestern und Brüder,
diese Fastenzeit im Heiligen Jahr 2025, 1700 Jahre nach der Formulierung unseres Glaubensbekenntnisses, ist eine Einladung, um – im Bild gesprochen – neu nach dem Profil der Schuhe zu schauen, die uns als Christen tragen. „Leg deine Schuhe ab“ meint gerade nicht, dass wir diese Schuhe weglegen, sondern dass wir sie genauer betrachten, ihr Profil studieren. Auch Mose zieht schlussendlich seine Schuhe wieder an, um seine Mission zu verwirklichen.
Viele von uns beten das Credo von Kindheit an in großer Selbstverständlichkeit bei der sonntäglichen Eucharistiefeier. Doch in gewisser Weise ist es mit unserem Credo wie mit einem Wanderschuh: Lange Zeit bin ich selbstverständlich damit unterwegs. Aber dann wird der Weg unsicher und rutschig. Jetzt schaue ich nach: Welches Profil hat mein Schuh? Wird dieses Profil im entscheidenden Moment auch greifen und Halt geben? Welches Profil hat unser Glaube? Was ist mit den einzelnen Formulierungen des Credos gemeint? Das Jubiläum von Nizäa und die großen Herausforderungen unserer Zeit sind Anlass, sich mit dem Profil unseres Credos zu beschäftigen und neu einen Glauben zu entdecken, der trägt und greift, gerade dort, wo unser Weg rutschig wird.
Dazu gehört auch – im Bild gesprochen – der Blick auf das Profil des zweiten Schuhs, auf das Profil unserer persönlichen Erfahrung mit dem Glauben.
Auf unterschiedliche Weise können dabei folgende Leitfragen eine Rolle spielen:
Doch bei allem, was wir als Herausforderung erleben, dürfen wir uns zusagen lassen: Die entscheidende Kraft gibt uns das, was für die Christen aller Jahrhunderte und aller Konfessionen die Mitte unseres Glaubensbekenntnisses ist: „Leg deine Schuhe ab …“ – Am Ende seines irdischen Weges werden Jesus brutal die Schuhe entrissen und seine Füße durchbohrt. Das letzte, was seine Füße in der Todesstunde berühren, ist der Balken des Kreuzes. Kreuz, Leiden, Tod und Auferstehung Jesu sind das entscheidende Profil unseres Glaubens.
In diesem Glauben zu wachsen, dafür segne uns auf die Fürsprache des heiligen Bonifatius, der heiligen Elisabeth von Thüringen und aller Heiligen der gute und barmherzige Gott, der + Vater und der + Sohn und der + Heilige Geist. Amen.
Fulda, am 4. Februar 2025,
dem Fest des heiligen Rabanus Maurus
Dr. Michael Gerber
Bischof
von Fulda